Deuß & Oetker
Die Seidenweberei Deuß & Oetker

Autor: Dr. Ludwig Hügen
Quelle: Heimat-und Geschichtsverein Schiefbahn e.V. mit freundlicher Genehmigung


 
 

Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts hatten die meisten Einwohner Schiefbahns, wie die Bewohner der Nachbarorte, vorwiegend von der Landwirtschaft und der Hausweberei gelebt. Durch die Ansiedlung von Industrieunternehmen in der zweiten

Hälfte des 19. Jh.s in den benachbarten Städten hatten zwar manche Hausweber dort neue Arbeit gefunden, aber die Handweberei kam mehr und mehr zum Erliegen, vieleHausweber wurden arbeitslos.

 

Zahlreiche Arbeiter wanderten ab und zogen in die benachbarten Städte, um sich dort eine neue Existenz zu suchen. In Schiefbahn sank die Einwohnerzahl in den 80er Jahren um rund 400 Personen, so dass die Gemeinde 1884 nur noch 2.980 Bewohner zählte, 1887 sank die Zahl auf 2.600 Einwohner ab. Während 1855 noch 546 Hauswebstühle im Dorf gestanden hatten, waren es 1861 nur noch 270 Stühle. Um1880 lag die gesamte Hausweberei nahezu völlig danieder.

 

Erst dem dynamischen Bürgermeister Kaspar Voss gelang es, die Krefelder Industriellen Wilhelm Deuß (Bild 1) und Albert Oetker (Bild 2) für Schiefbahn als Industriestandort zu interessieren. Als die beiden im Jahre 1869 ihre Seidenweberei mit anfangs 10 Stühlen gründeten, war der mechanische Webstuhl noch nicht erfunden; jeder Webstuhl musste von Hand bedient werden. Wilhelm Deuß

(1827 - 1912), in Krefeld als Sohn eines Bäckers geboren, war ein vorzüglicher Seidenfachmann und Einkäufer; sein 12 Jahre jüngerer Sozius, Albert Oetker (1839 - 1908) ein weitschauender Kaufmann und Repräsentant der schnell wachsenden Firma nach außen. Mitte der 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts waren von der Firma Deuß & Oetker bereits 4.000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden, wobei viele Hausweber daheim für Rechnung der Firma arbeiteten. Um diese Zeit setzte sich der mechanische Webstuhl durch, dessen Einführung am Niederrhein zu einer vollständigen Umwälzung des bisherigen Fabriksystems führte. Das Lohn-und Heimarbeitersystem mußte zum größten Teil fallen gelassen, die Arbeiter in großen Fabriken vereinigt werden, wo die nötige Kraft zum Betrieb der Webstühle, d.h. Dampf und Elektrizität, erzeugt und benutzt werden konnten. Mit klarem Blick erkannten auch Wilhelm Deuß und Albert Oetker die gewaltigen Vorteile, die ihnen das neue System mit seiner großen Leistungsfähigkeit bot. Sie zögerten daher nicht lange, es in ihrem Betrieb einzuführen.

 

Dennoch konnte die Verstädterung nicht das Ziel der Industrie sein, wie Albert Oetker erkannte, der sich inzwischen zu einem zielstrebigen Unternehmer liberaler Prägung und sozialen Pflichtbewußtseins entwickelt hatte. Oetker drängte darauf, eine

Großweberei auf dem Lande zu erbauen statt eine Erweiterung in der Stadt vorzunehmen, denn auf den Dörfern waren die Facharbeiter in genügender Zahl vorhanden und auf Dauer mußte es einträglicher für beide Seiten sein, die Ressourcen dort auszuschöpfen, wo sie vorhanden waren.

 

Im Herbst 1888 entschied sich daher die Firma für den Standort Schiefbahn, denn die Bedingungen, die die Firma für ihre Ansiedlung stellte, wurden vom dortigen Gemeinderat einstimmig angenommen. Das erforderliche Gelände wurde zu einem Vorzugspreis von 700 Mark pro Morgen (!) zur Verfügung gestellt, außerdem Steuerfreiheit bis zum Jahre 1900 zugesichert. Als Standort bot sich ein damals noch ausschließlich landwirtschaftlich genutztes Gelände an, flach und eben, ohne Baum und Strauch. Die Firma Deuß & Oetker erwarb ein etwa 60 Morgen großes Areal und übertraf damit in der Flächengröße den eigentlichen Ortskern um etliches. (Bild 3)

 

Bereits im Januar 1889 wurde mit dem Bau der Fabrikanlagen begonnen. Die gesamte Bauausführung lag in Händen des Schiefbahner Bauunternehmers Heinrich Kamper, (Bild 4)

 

In Schiefbahn liefen am 18. November desselben Jahres die ersten mechanischen Webstühle. Im ersten Bauabschnitt wurde der rund 16.000 qm große Websaal errichtet - der größte Websaal im damaligen Deutschen Reich, im Jahre 1902 der Betrieb nochmals erheblich vergrößert und eine Appretur eingerichtet. Nachdem im November 1889 der Betrieb mit zunächst 179 Arbeitskräften eröffnet werden konnte und die Belegschaft bis zum Jahre 1904 bereits auf über 1.000 anstieg, reichte der Standort Schiefbahn allein nicht mehr aus, um den Arbeiterbedarf zu decken. Nicht nur, dass Schiefbahn auch Arbeitgeber für die umliegenden Dörfer Neersen, Anrath und Willich vor allem wurde, es mußten darüber hinaus auch weitere Werke am Niederrhein angekauft bzw. neu errichtet werden, um der steigenden Nachfrage gerecht werden zu können.

 

In den Webereien wurden schwarze und farbige Kleiderstoffe fabriziert, weiter Damenfutterstoffe, Krawattenstoffe, Turquoise, das heißt schwarze Krawattenstoffe sowie Herrenfutter- und Schirmstoffe.

 

Kennzeichnend für den Schiefbahner Betrieb war von Anfang an die Vereinigung dergesamten Fabrikabteilungen in einem großen Websaal, dieses Prinzip konnte sich imWesentlichen im Werk Schiefbahn bis zuletzt erhalten.

 

Trotz der Mechanisierung wurden aber auch weiterhin immer noch Heimweber beschäftigt, wenn auch in geringerer Zahl als früher. Die letzten Heimweber haben sogar in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg noch einmal besondere Bedeutung dadurch erlangt, daß mit ihrer Hilfe die Produktion wenigstens in kleinem

Umfang wieder aufgenommen werden konnte, als die Produktionserlaubnis (permit) von der amerikanischen bzw. später britischen Besatzungsmacht noch nicht erteilt worden war.

 

Ende 1890 bahnten sich erste ernsthafte Auseinandersetzungen an, da die Belegschaft des jungen Werkes der Firma Deuß & Oetker, gestärkt durch die Katholische Kirchengemeinde Schiefbahn, auf die Einhaltung althergebrachter Feiertage bestand, hier machte sich erstmals störend bemerkbar, daß die Firmeninhaber und viele der von ihnen mitgebrachten Meister und Vorarbeiter evangelisch waren.

 

Der Schiefbahner Pastor berichtete dem Kölner Erzbischof darüber u.a.: “Mit besonderer Rücksicht auf die ausschließlich katholische Bevölkerung fühlten sich die Vertreter der Gemeinde verpflichtet, das Ruhenlassen der Arbeit an katholischen Festtagen betonen zu müssen.“ Die Schiefbahner Fabrikarbeiter haben schließlich erreicht, daß sie an den althergebrachten Festen nicht zu arbeiten brauchten. (Bild 5)

In den ersten Jahren des Bestehens der Firma hatte sich offensichtlich aber noch unabhängig von dem Streit über die katholischen Feiertage eine weitere große Kluft zwischen den Meistern und Arbeitern aufgetan, nur so ist die Beschwerde zu

verstehen, mit der sich im Jahre 1900 sämtliche Meister der Firma Deuß & Oetker in einem besonderen Anliegen an ihre Arbeitgeber wandten. Hierin heißt es: “Wir bitten um eine von allen Arbeitern getrennte Garderobe zum Umkleiden und Waschen, damit wir außerhalb des Betriebes äußerlich kund tun können, das wir standesgemäß über die Arbeiter stehen, was im Interesse der Firma, der Meister die das Interesse der Firma zu wahren haben, und der Öffentlichkeit gegenüber notwendig ist“. Ob und in welcher Weise die Firmenleitung die Zwistigkeiten beilegen konnte, ist aus den noch vorhandenen Unterlagen nicht ersichtlich. Ein Grund für die Spannungen dürfte, wie bereits erwähnt, sicher darin gelegen haben, daß die Firma ihre Meister und Vorarbeiter zumeist aus dem “evangelischen“ Bergischen Land geholt hatte. So kam zu dem Gefühl, von “fremden“ Vorgesetzten als bisher freie Weber nunmehr Befehle entgegennehmen zu müssen, wohl auch noch das religiöse Anderssein, daß vor 100 Jahren von entscheidend wesentlicherer Bedeutung war, als man sich das heute noch vorstellen kann. Jedenfalls haben nur ganz wenige der damals “importierten“ Meister und Vorarbeiter in Schiefbahn Fuß fassen können. (Bild 6)

 

Sieht man von derartigen Streitigkeiten einmal ab, die sich wenige Jahre später auch noch zwischen Betriebsleitung und Arbeitern erheblich zuspitzen sollten, darf man dennoch nicht übersehen, daß die Firma auf den verschiedensten Gebieten entscheidend mit dazu beitrug, daß Schiefbahn bald eine der modernsten und

wohlhabendsten Gemeinden am Niederrhein wurde. So war Schiefbahn wohl das erste Dorf, dessen Bewohner ihre Wohnungen schon vor der Jahrhundertwende mit elektrischem Licht beleuchten konnten, denn im Jahre 1898 hatte Deuß & Oetker in Schiefbahn ein Elektrizitätswerk errichtet, welches auch das Dorf und seine Bewohner mitversorgte. Damals gab es in den benachbarten Gemeinden nur Petroleumlampen und auch in Schiefbahn wurde die Straßenbeleuchtung noch spärlich mit Petroleumlampen durchgeführt. Damals hatte sich die Gemeinde Schiefbahn vertraglich verpflichtet, der Firma Deuß & Oetker auf die Dauer von dreißig Jahren das Recht einzuräumen, ein Werk für öffentliche und private elektrische Beleuchtung sowie zur Abgabe von elektrischer Kraft zu betreiben; das Werk seinerseits verpflichtete sich, der Gemeinde und den privaten Stromabnehmern

elektrische Energie zu Licht-, Kraft- und sonstigen Zwecken in direkt nutzbarer Form zu Preisen zu liefern, wie sie der Mehrzahl der Gemeinden in den Kreisen Gladbach, Neuß und Krefeld-Land gewährt wurden. Immerhin hat die Stromversorgung Schiefbahns bis zum Jahre 1954 durch die Verseidag sichergestellt werden können, erst dann wurde das Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerk auf diesem Gebiet tätig. (Bild 7)

 

Bild 7

Neben dem Wohnungsbau, der Schaffung von Eigenheimen und Mietwohnungen, wurde von Deuß & Oetker bereits früh ein Angestellten-Pensionsverein geschaffen, der später auch auf die Meister und Arbeiter ausgedehnt wurde. Die ausscheidenden

Betriebsangehörigen erhielten damit neben ihren Renten aus der Sozialversicherung auch noch eine zusätzlich Pension aus dem Betrieb.

 

Die Spannungen zwischen der Betriebsleitung und den Arbeitern hatten dazu geführt, daß sich große Teile der Arbeiterschaft dem am 24. April 1898 in Krefeld gegründeten, strikt anti- ozialdemokratischen “Niederrheinischen Verband christlicher Textilarbeiter“ anschlossen, weiterhin wurde im Jahre 1900 in Schiefbahn ein katholischer Arbeiterverein gegründet. Da die christlichen Gewerkschaften bereits existierten, beschränkte sich dieser Arbeiterverein auf die die Gewerkschaften ergänzenden Aufgaben. Der Schiefbahner Pfarrer Klein beschreibt die Ziele des

Arbeitervereins wie folgt: “Der neue Verein soll anstreben: Hebung der Religiosität und der Standestugenden, Pflege der Freundschaft und Geselligkeit, Förderung der Standesehre und standesgemäßen Bildung“. (Bild

Bild

 

Anfang dieses Jahrhunderts eskalierten im Schiefbahner Betrieb erneut die Auseinandersetzungen zwischen der Firmenleitung und den Arbeitnehmern. Nicht nur die Löhne, die unter dem üblichen Lohnniveau lagen, sondern auch das Verhalten des damaligen Fabrikdirektors Ewald Hülsemann, der bis 1923 Leiter der Firma in Schiefbahn war, führten zu einem Seidenweber-Streik im Jahre 1905, der sich zum größten Weberstreik des Rheinlandes ausweiten sollte.

Der Arbeitskampf in Schiefbahn im Jahre 1905 gilt als einer der größten und wichtigsten Streiks in der Kaiserzeit, der auch weit über das Kreisgebiet hinaus bekannt wurde und Unterstützung fand. Rund 800 Arbeiterinnen und Arbeiter von 1.200 Beschäftigten kündigten am 29. April 1905 und begannen am 12. Mai mit dem Streik. Gefordert wurden Lohnerhöhungen und Aushängen von Lohnlisten. Die Firmeninhaber zeigten sich unnachgiebig, auch die übrigen Textilunternehmer des Kreises und insbesondere Krefelds wandten das System der “schwarzen Listen“ an und entließen bei ihnen beschäftigte Schiefbahner oder stellten diese erst gar nicht ein. Auf der anderen Seite verhielt sich die Arbeiterschaft solidarisch, so daß sich die Firma Deuß & Oetker vergebens bemühte, in der Nachbarschaft Arbeiter anzuwerben.  Der Streik war teuer: Der Textilarbeiterverband mußte wöchentlich fünf- bis sechstausend Mark aufwenden, auf der anderen Seite trafen aus allen Teilen des Deutschen Reiches Spenden ein, die sich bis zum Ende des Streiks im September 1905 auf 15.264,65 Mark summierten. Erst nach rund dreimonatigem Arbeitskampf konnte die Belegschaft einen Teil ihrer Forderungen durchsetzen. Das positive Ende des Streiks war der Anlaß für viele Arbeiter in den übrigen Textilfirmen des Kreisgebietes, ebenfalls für ihre Forderungen nach Lohnerhöhungen zu streiken.

 

Der Betrieb der Firma Deuß & Oetker nahm seit 1890 einen guten Aufschwung, den die Zahlen der dort beschäftigten Arbeiter und Angestellten erkennen lassen. Die Beschäftigungsziffer erreichte im Jahre 1910 ihren höchsten Stand, sank dann aber vor allem in der Kriegszeit stark ab. (Bild 9)

 

Nachfolgend die Beschäftigtenzahlen in den einzelnen Jahren:


1893 = 502

1894 = 518

1895 = 590

1896 = 697

1897 = 774

1898 = 763

1899 = 787

1900 = 781

1001 = 799

1902 = 781

1903 = 956

1904 = 967

1905 = 953

1906 = 1020

1907 = 985

1908 = 955

1909 = 1006

1910 = 1014

1911 = 963

1912 = 955

1913 = 942

1914 = 882

1915 = 659

1916 = 628

1917 = 501

1918 = 382

Bild 9

 

Die Durchschnittslöhne betrugen in den Jahren 1893 bis 1900 etwa 2,50 Mk. täglich, inder Zeit von 1901 - 1914 etwa 3,50 Mk., der Lohn der Handweber täglich 2,- Mk. bzw. 2,50 Mk., war also geringer. Die Firma beschäftigte durchschnittlich etwa 50

Heimarbeiter.

 

Albert Oetker fühlte sich zu seinem Firmensitz so hingezogen, daß er in unmittelbarer Nähe auf einem 42 Morgen großes Areal einen Park und Gartenanlagen anlegen ließ und inmitten dieses Parks einen prachtvollen Sommersitz errichtet. Das von seinem

Besitzer “Haus Niederheide“, damals noch mit “ai“ geschrieben, genannte Haus, wurde bald zu seinem ständigen Domizil. Von hier aus setzte Albert Oetker fortan wesentliche Akzente für das wirtschaftliche Leben am Niederrhein. Baumeister seiner

“Residenz“ war der weit über die Grenzen des Niederrheins hinaus bekannte Architekt Hugo Koch (1846 - 1921), der von 1898 bis 1907 Stadtverordneter in Krefeld war, wie übrigens Albert Oetker auch.

 

Wilhelm Deuß, der 70jährig 1897 aus der Firma ausschied und die Geschäftsführung an Albert Oetker übertragen hatte, fühlte sich mehr nach Krefeld hingezogen.

 

Der Park in Schiefbahn mit seinen vielfältigen, teilweise exotischen Bäumen, künstlichen Seen, Brücken, verschlungenen Wegen, mit einer Grotte und Erhebungen veränderte das Bild der bis dahin offenen niederrheinischen Landschaft. Es war nur natürlich für die damalige Zeit, daß der gesamte Besitz durch hohe Zäune geschützt für die einfachen Dorfbewohner nicht betretbar war. So konnten die Schiefbahner nur ab und zu staunend auf dem breiten Zufahrtsweg, der ursprünglich an der Fabrikseite lag, die herrschaftlichen Kutschen sehen. Vielleicht sah man auch ab und zu einmal die Dame des Hauses in wallenden weiten Gewändern der damaligen Zeit im Park, in die Villa kamen die “normalen Leute“ jedoch nicht. Die Nachbarn nannten den Sommersitz ganz einfach “anlach“, d.h. Anlage, weil es sich in der Tat um einen künstlich angelegten Park handelte.

 

Der Firmeninhaber, vor dem die Jungen die Mützen zogen und den die Kinder mit “Guten Tag, Herr Kommerzienrat“ grüßten, hatte, wie sich eine alte Schiefbahnerin erinnert, allerdings nicht nur daran gedacht, für sich selbst einen komfortablen Wohnsitzzu errichten, sondern er wollte auch seinen Arbeitern Wohnungen bieten. In einer Arbeitersiedlung sollten die Weber nun langzeitig an die Firma gebunden werden; es steht dahin, ob es mehr wirtschaftliche oder soziale Gründe waren, die Albert Oetker hier antrieben. Jedenfalls suchte er die angestrebte Zusammengehörigkeit von Wohnung und Arbeitsstätte rasch zu verwirklichen. Der Siedlungsplan lag ausschließlich in den Händen des Fabrikherrn, von dem Krefelder Hugo Koch wurden 1897 insgesamt 19 Doppelhäuser an der damaligen Neersener Straße erbaut. Die Wohnfläche betrug je Familie 62 qm. Jedes Haus besaß einen Garten, der aber nicht zu groß sein durfte, damit die Arbeiter auch zusätzlich Heimarbeit für die Fabrik leisten konnten! Oetker ist es tatsächlich gelungen, durch diese, für die damaligen Verhältnisse sehr moderne Wohnsiedlung, im Volksmund kurz “Kolonie“ genannt, die Weberfamilien lange, zum Teil bis heute, an die Firma zu binden.

(Bild10)

 

Für die damalige Zeit ein dreifacher, aber einheitlicher Komplex an der früheren Neersener Straße in Schiefbahn: Die Seidenweberei, die Oetker-Villa mit großem Park als Sommervilla des Firmeninhabers und das große Dreieck der Arbeiterwohnsiedlung, die bald unter dem Namen “Kolonie“ bekannt wurde. Der

Begriff “Kolonie“ dürfte entlehnt sein aus dem damaligen aktuellen Sprachgebrauch: Deutschland hatte in den Jahren zuvor Kolonien in Afrika erworben, deutsches Staatsgebiet also, das außerhalb des eigentlichen Mutterlandes lag. Auch in Schiefbahn lag die nun gebaute Arbeiterwohnsiedlung weit außerhalb des eigentlichen Ortskerns, und zwar praktisch im Niemandsland, denn die

nach Neersen führende Straße war noch kaum bebaut. Die ersten Bewohner dieser Gebäudezeilen haben jedoch diese Bezeichnung keineswegs negativ aufgefaßt, denn sie nannten den von ihnen im Jahre 1908 als ersten Schiefbahner Fußballclub gegründeten Verein “Kolonia“ - sie führten wohl die Bezeichnung auf das römische

“Colonia“ = Köln zurück.

Neben dieser Arbeitersiedlung entstanden mit Hilfe einer neu gegründeten Wohnungsbaugenossenschaft eine Reihe Eigenheime auf der Haupt-, der Zehnthof und der Neustraße. Für den Bau einer Volksschule in Niederheide stiftete die Firma Deuß & Oetker 10.000 Mark.

 

Albert Oetker war am 1. Mai 1900 der Titel eines Königlichen Kommerzienrats verliehen worden. Als am Samstag, dem 8. August 1909 Albert Oetker auf seinem Sommersitz, Haus Niederheide in Schiefbahn, starb, hinterließ der unermüdliche Seniorchef der Firma Deuß & Oetker zweifellos eine Lücke, die nur schwer zu schließen war. Er hatte ein Werk geschaffen, das für die nähere und weitere Umgebung von unschätzbarem Wert sein sollte. Das ganze Dorf, ein nie gesehener Trauerzug, gab dem toten Fabrikherrn bis zum Dorfausgang das letzte Geleit. Seine Söhne Paul und Rudolf setzten sein Werk erfolgreich fort, weitere Fabriken wurden in den Jahren 1908 bis 1910 in Walbeck, Herongen und Wachtendonk errichtet. Zum Zeitpunkt des Ablebens von Albert Oetker galt so die Firma als führend in Deutschland.

 

Mit dem Tod von Firmengründer Albert Oetker im Jahre 1909 endete die Ära der Seidenweberei Deuß & Oetker in Schiefbahn.

 

Nach dem Ersten Weltkrieg zeigte es sich, daß der wirtschaftliche

Zusammenschluß führender Textilindustrien auch im Krefelder Bereich unabdinglich war, um nicht nur bestehen zu können, sondern auch eine führende Marktstellung einzunehmen. Logische Folge war eine lockere Interessengemeinschaft, die sich im Jahre 1919 aus dem Zusammenschluß einer Reihe angesehener Familienbetriebe, die in und um Krefeld ansässig waren,

ergab.

 

Als sich dann auch die Inhaber der Firma Deuß & Oetker, die Brüder Paul und Rudolf Oetker, wenig später für den Zusammenschluß interessierten, kam es im Oktober 1920 zur Gründung der Vereinigte Seidenwebereien AG zu Krefeld.

Die Inflation eilte in jenen Jahren gerade ihrem Höhepunkt mit der völligen Währungszerrüttung und allen Begleitumständen des Niedergangs zu. Der Tatkraft und Zuversicht des Teams, das die Geschicke des jungen Unternehmens mit den alten Traditionen leitete, gelang es jedoch, die Verseidag durch alleStürme erfolgreich hindurchzusteuern. Schiefbahn als größter Zweigbetrieb profitierte davon am meisten.

 

Nach dem Zusammenschluß und dem Aufgehen in die neue Firma Vereinigte Seidenwebereien AG nahm auch das Werk Schiefbahn einen bedeutenden Aufschwung. Die Beschäftigtenzahl, die 1918 mit 382 und 1919 mit 539 ihren niedrigsten Stand seit der Gründung des Werkes erreicht hatte, stieg wieder stetig an von 1920 = 572, auf 1929 = 883, um 1930 auf 821 zu fallen. Bei dieser letzten Zahl ist jedoch zu berücksichtigen, daß im Juni 1930 die Appretur nach Krefeld verlegt wurde und ein Teil der bisher in Schiefbahn beschäftigten Facharbeiter nun nach Krefeld abgezogen wurde. 1931 wurden 810, 1932 = 774, 1933 = 843 und 1923 = 1.012 Angestellte, Arbeiterinnen und Arbeiter in Schiefbahn beschäftigt. Dabei sagen diese Beschäftigtenzahlen alleine nichts aus über die

enorme Kapazitätserweiterung des Werkes, denn es wurden immer modernere Maschinen eingesetzt; während in den Gründerjahren noch ein Weber einen Webstuhl und später dann zwei Stühle bediente, konnte er im Laufe der Jahre mehrere Webstühle zur gleichen Zeit arbeiten lassen, so daß der Ausstoß an Fertigware immer größer wurde.

Nachdem der erste Fabrikdirektor Ewald Hülsemann ausgeschieden war - seine autoritäre, selbstherrliche Art und Weise wurde von der Belegschaft nicht mehr länger akzeptiert - wurde im Oktober 1924 Johannes Schriefers zum Leiter dieses größten Webereibetriebes der Verseidag berufen. (Bild 1 )

 

 

Der Wechsel in der Betriebsleitung 1924 bedeutete für das Schiefbahner Werk eine erste große Zäsur: Der autoritäre Führungsstil der Gründerzeit, manifestiert in der Einzelperson des Fabrikdirektors, ging in ein Miteinander von Leitung und  Beschäftigten über, das allein von jetzt an ein wirtschaftliches Aufblühen sicherstellen konnte. Johannes Schriefers selbst schied 1960 aus der Firma aus, nachdem er das Werk auch durch die politischen Wirren des “Tausendjährigen Reiches“ und die schwierige Nachkriegszeit mit Eifer, Geschick und Beharrlichkeit geleitet hatte und noch erleben durfte, wie seine beiden Söhne als Professoren bedeutende berufliche Karrieren machten; am 5. April 1969 starb er in Schiefbahn auf seinem “Alterssitz“, den er sich im Knickelsdorf gewählt hatte, damit er “seine Fabrik“ immer sehen konnte.

Bild 1

 

Mit der sogenannten “Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 änderte sich auch im politischen und gewerkschaftlichen Bereich des größten Schiefbahner Arbeitgebers, der Verseidag, manches. Wie überall im öffentlichen Leben wurde das “Führerprinzip“ auch in den Wirtschaftsbereichen eingeführt, die Gewerkschaften und die demokratischen Parteien beseitigt, die Deutsche Arbeitsfront (DAF) versuchte, alle Arbeiter und Angestellten unter ihrem Dach zu

vereinigen.

 

Aus dem 1. Mai, den die Arbeiterinnen und Arbeiter in allen Ländern zu ihrem Bekenntnistag gemacht hatten, wurde nun der von den Nationalsozialisten propagierte “Tag der Arbeit“; auch in Schiefbahn wurde die Belegschaft der Verseidag zusammengetrommelt. Man marschierte in einer riesigen Kolonne vom Werk aus quer durch den Ort zum Wilhelm-Wirtz-Platz, wo eine große politische Kundgebung stattfand.

In einem Bereich erwies sich der Betrieb Schiefbahn der Verseidag als seiner Zeit weit voraus, nämlich im Sport. Wenn man auch schon den ersten Schiefbahner Fußballclub auf der vereinseigenen Anlage an der Fabrik gegründet hatte - der allerdings nach wenigen Monaten wieder verschwand - und auch aus den Betriebsreihen viele der besten Turner des Dorfes kamen, konnte doch der Kunstradsport bald eine Ausnahmestellung einnehmen. Wenn auch mehr als 60 Jahre später Betriebsmannschaften im Leistungssport alltäglich sind, so war das in den dreißiger Jahren keineswegs selbstverständlich.

Dann kam der große Krieg, der Zweite Weltkrieg, der nun von 1939 an das Gesicht auch der Werkzeitung prägte: Durch Berichte von eingezogenen Soldaten über Kämpfe und Gefechte, mit langen Listen über Verwundungen, mit Tabellen über Beförderungen und Auszeichnungen und in zunehmendem Maße mit Todesanzeigen unter der Überschrift: “Im Kampf für Führer und Volk blieben auf

dem Felde der Ehre unsere Arbeitskameraden:“ - und es folgten immer längere Listen von Gefallenen.

 

Während des Zweiten Weltkrieges wurden die Fabrikanlagen und auch die „Kolonie“ eigentlich nur geringfügig in Mitleidenschaft gezogen mit einer Ausnahme: Am zweiten Pfingsttag 1j941 zerstörte die Bombe eines feindlichen Flugzeuges ein Haus der Seidenweber Straße, das damals von den Geschwistern Kaulen bewohnt wurde.

Dann kam der 1. März 1945 – die „Befreiung“ durch die Amerikaner. Bei den Kämpfen um Schiefbahn blieb zwar die Fabrik weitgehend unzerstört, sie wurde jedoch wenige Tage nach der Besetzung geplündert; es wurde fast allesherausgeschleppt, was nicht niet- und nagelfest war. Beim Einmarsch wurde Frau Anna Brester durch Granatsplitter getötet.

 

Im Jahre 1960 übernahm Dipl. Ing. Ulrich Jacobs (Bild 2) die Werksleitung in Schiefbahn. Wie bereits beim Wechsel zwischen den langjährigen Betriebsleitern Hülsemann und Schriefers bedeutete auch dieser Wachwechsel eine erneute Zäsur: Der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg war endgültig abgeschlossen. 1960 waren die letzten Webstühle, die noch aus dem vorigen Jahrhundert stammten, abgebaut worden - nun galt es, sich den Erfordernissen einer modernen Zeit zu stellen. Die Modernisierung war die Ursache dafür, dass die Zahl der  Belegschaftsmitglieder immer mehr schmolz, wenn auch die Firmenleitung auf der anderen Seite die soziale Betreuung in den verschiedensten Bereichen noch stärker ausbaute. Die Beschäftigtenzahl spiegelte diese Entwicklung wieder; sie stieg von 476 (1946), auf 775 im Jahre 1950, fiel dann jedoch auf 692 (1955) und 569 (1964) zurück. Im Jahre 1968 wurden in Schiefbahn nur noch 500 Leute beschäftigt.

 

Bild 2

 

Als Jacobs im Jahre 1969 nach Krefeld zurückkehrte und dort als Direktor für den Bereich Technik eingesetzt wurde, übernahm der Textil-Ingenieur Horst Scherzer (Bild 3) die Betriebsleitung in Schiefbahn. 1970 wurde der Betrieb weiter maschinell modernisiert. Es wurden Greifer-Maschinen der Firma Dornier für die

Herstellung von Heimtextilien und 16 Sulzer-Webmaschinen von Gütersloh nach Schiefbahn verlagert und dort in der Krawattenweberei eingesetzt. Wenn auch 1971 noch einmal die Beschäftigtenzahl auf556 stieg, so reduzierte sich diese von 1972 an doch wieder mehr und mehr.

Bild 3

 

So setzte Mitte der siebziger Jahre eine erste Konzentration bestimmter Produktgruppen auch in Schiefbahn ein, die der Verseidag eine Neugliederung in verschiedene Sparten bescherte, dem Betrieb Schiefbahn die Einschränkung auf die beiden Bereiche Krawatte und Dekoration. Die Änderungen bzw. die stärkere Konzentration der Krawattenstoffe auf den Betrieb Schiefbahn bedingten eine erneute Aufteilung in die Bereiche Krawattenstoffe, dem vom 1.7.1983 Franz Niehaus (Bild 4) vorstand, während die

Deko-Abteilung weiterhin durch Horst Scherzer geleitet wurde.

 

Im übrigen sank die Personalstärke im Werk Schiefbahn im Jahre 1971 von 531 Beschäftigte in 1972 auf 519, 1973 = 443, 1974 =276, 1976 = 280 bis zum Jahre 1986 auf 180 und im Jubiläumsjahr 1989 auf 114 Mitarbeiter im Krawattenbereich, so dass hier nur noch rund 140 insgesamt beschäftigt sind.

 

Im Jahr 1987 wurde der Geschäftsbereich Heimtextilien/Dekostoffe aufgelöst und die Produktion in Schiefbahn eingestellt und der Firma Girmes in Grefrath angegliedert, die Betriebsangehörigen wurden vor die Wahl gestellt, zukünftig dort zu arbeiten oder gekündigt zu werden.

Bild 4

 

Die Schiefbahner Weberei, die Arbeitersiedlung Kolonie und der Bereich der Oetker-Villa wurden 1988 auf Anregung der Heimat- und Geschichtsfreunde Schiefbahn unter Denkmalschutz gestellt.

 

Nur wenige Jahre später (1997) musste auch der Bereich Krawattenstoffe aufgelöst bzw. nach Wegberg verlegt werden, die Betriebsangehörigen, damals noch ca. 140 Personen, standen vor der Alternative Kündigung oder Arbeitsaufnahme in Wegberg.

Die Produktion in Schiefbahn wurde eingestellt, die Gebäude der Seidenweberei, eines wichtigen Zeugnisses der industriellen Entwicklung am Niederrhein standen zunächst leer.

 

Seit Juli 1998 gehört die Verseidag zu 96,7% dem niederländischen Konzern  „Gamma Holding“. Sie hörte damit auf, eine niederrheinische Firma zu sein. Dieser Konzern hatte die Aktienpakete von der Deutschen Bank und den Verseidag-Gründerfamilien übernommen.

 

In Alt-Schiefbahn war die Firma Deuß & Oetker, später Vereinigte Seidenwebereien, Geschichte geworden.

 


 
 
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